Kunstpädagogische Praxisforschung im KindergartenCover small

Anja Morawietz: Zeichnen als Bildungschance im Kindergarten
Kopaed Verlag 2020
320 Seiten
26,80 Euro
ISBN 978-3-86736-513-0

 

In dieser methodisch vorbildlichen Untersuchung geht es um die Beforschung des gegenstandsorientierten Zeichnens 5- bis 6-Jähriger im Kindergarten sowie um die Frage nach einer angemessenen kunstpädagogischen Begleitung der damit verbundenen Zeichenprozesse.
In ihrer theoretischen Aufarbeitung betont Morawietz, dass Kinder beim Zeichnen nach Anschauung anders vorgehen als Erwachsene. Während Erwachsene beim Zeichnen oft einen fotografischen Blick einnehmen, bei dem es auf exakte Proportionen und Umrisslinien ankommt, zeichnen Kinder nicht nur mimetisch, sondern bringen schlichtweg alles zur Anschauung, was ihnen wichtig ist. So kann es auch vorkommen, dass Kinder selbst dann aus der Erinnerung zeichnen, wenn sie unmittelbar vor dem zu zeichnenden Motiv sitzen. Zeicheninstruktionen aus Erwachsenenperspektive sind deshalb fragwürdig.
Mittels Videoanalyse untersucht die Autorin nicht nur die Zeichnungen der Kinder, sondern auch die Interaktionen während des Zeichenprozesses. Dieser Blickwinkel führt zu neuen Impulsen für die Zeichendidaktik im Vorschulalter: „Auf der einen Seite findet sich das kleinschrittige Instruieren des Zeichnens. Auf der anderen Seite die Auffassung, Kinder seien im gestalterischen Unterricht einfach sich selbst zu überlassen, in der Annahme, alles müsse aus der ‚natürlichen‘ Schöpferkraft des Kindes kommen.“
Diese Leerstelle zwischen beiden Polen der Zeichendidaktik ist mit der Arbeit nun beseitigt: Im Sinne eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs ist gegenstandsorientiertes Zeichnenlernen als ein Wechselspiel zwischen Eigenständigkeit und Interaktion zu verstehen. Für die Lehrperson verbindet sich damit ein mehrdimensionales Agieren: Eine „Gratwanderung zwischen Führen, Motivieren und Gewährenlassen“, bei der folgende Aspekte zum Tragen kommen: Emotional inspirieren, Ermutigen, Befähigen, Begleiten, Agieren im Zustand der Überforderung.
Sowohl für die fachdidaktische Forschung als auch für die Praxis ist die Studie von Morawietz hochrelevant, gab es bislang doch noch kaum wissenschaftlich gesichertes Wissen zum Zeichnenlernen im Kindergarten. Auch für die Kunstpädagogik gibt Morawietz einen Ausblick: Das gegenstandsorientierte Zeichnen im Unterricht der verschiedenen Schulstufen müsste ebenso beforscht werden, denn auch dazu existieren kaum fundierte Kenntnisse.
Raphael Spielmann